MenuMenu

Haben wir heutzutage das Ziel der Aufklärung von mündigen Bürger:innen erreicht?

Was hat der Geist der Aufklärung, die von Immanuel Kant geforderte Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger und der damit zusammenhängende Einsatz unseres eigenen kritischen Verstandes mit Kulturtransformation und verantwortungsbewusstem Handeln zu tun und inwiefern spielt das heutzutage eine Rolle?

Im Jahre 1784 schrieb der deutsche Philosoph Immanuel Kant in der Berlinischen Monatsschrift zur Beantwortung der Frage, was Aufklärung ist:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Kant – wie auch viele andere Vordenkende der Aufklärung – forderte, dass sich die Mitmenschen durch das Bewusstsein über die Freiheit des eigenen Verstandes und durch rationales Denken zu aufgeklärten Bürger:innen entwickeln, die ihren eigenen Verstand bewusst einsetzen. Zur damaligen Zeit ging es darum, dass sich die Bürger:innen durch die Berufung auf die Vernunft, Fortschritt-hindernde Strukturen abschaffen, althergebrachte Überzeugungen wie auch Vorurteile überwinden und sich von den autoritären, unterdrückenden und entwicklungshemmenden Regimen von Staat und Kirche lossagen. Damit einher ging auch die Förderung der persönlichen Handlungsfreiheit, Bildung, Menschenrechte und der Akzeptanz für neu erlangtes Wissen, welches oft von Staat und Kirche unterdrückt wurde, da dieses für sie häufig eine Bedrohung darstellte. Als prominentes Beispiel dafür ist die Erkenntnis zu erwähnen, dass sich die Erde um die Sonne dreht, da dieses heliozentrische Weltbild im Widerspruch zur damaligen Lehre der katholischen Kirche stand.
      Allerdings war es so, dass ein Grossteil der Bürger:innen über ihr ganzes Leben hinweg gerne unmündig blieb, obwohl sie längst erwachsen und fähig zur Mündigkeit gewesen wären. Der Grund dafür war gemäss Kant „Faulheit und Feigheit“. Denn es ist auch sehr bequem, unmündig zu sein – wenn jemand anders für einen denkt. So ist es allerdings für diese anderen auch sehr leicht, sich zu „Vormündern“ dieser Menschen aufzuschwingen, was u.a. die Macht der Aristokraten damals zementierte.

Kant verneinte dazumal die Frage, ob er bereits in einem aufgeklärten Zeitalter lebe, sagte aber, dass er in einem Zeitalter der Aufklärung lebe. Und wie sieht es heutzutage aus in politisch freien, demokratischen Gesellschaften? Haben wir nun dieses aufgeklärte Zeitalter erreicht? Sind wir nun endlich alle zu aufgeklärten Bürger:innen herangewachsen, die sich über die Freiheit ihres Denkens bewusst sind und ihren eigenen Verstand – v.a. auch den kritischen, reflektierten Verstand – vollumfänglich und bewusst einsetzen?
      Das Bild dieses Artikels von einem Himmelstor in Bali lässt in geringem Masse und auf humorvolle Art Zweifel an diesen Fragen aufkommen. Zu diesem Tor hat sich der Touristen-Trend gebildet, möglichst instagramable Fotos von sich vor dem Tor schiessen zu lassen und diese auf Social Media hochzuladen – dies, obwohl man dafür ca. 30 Minuten lang in der Schlange anstehen und umgerechnet 2 Euro bezahlen muss, ohne dass dieses Tor irgendeine kulturelle, historische, spirituelle oder religiöse Bedeutung hat, sondern ein simples Einfahrtstor zu einem Luxus-Golfhotel ist. Ob hier jede:r Tourist:in den eigenen kritischen Verstand einsetzt und die Bedeutung dieser Attraktion bewusst reflektiert, bin ich mir nicht ganz sicher. Es handelt sich um einen durch Social Media geförderten Trend, der bei vielen Medienkonsument:innen das Bedürfnis triggert „Been here, done that!“. Man muss jetzt unbedingt auch ein Foto von sich vor dieser „Sehenswürdigkeit“ haben, weil man das bei charmanten, modebewussten Influencer:innen auf Social Media gesehen hat und es trendig ist.

Als Leser:in können wir uns jetzt vielleicht sagen: „Also ich würde so etwas ganz bestimmt nicht machen“. Allerdings müssen wir uns da alle selbst an die eigene Nase fassen und uns die Frage stellen: Wie stark lassen wir uns in unserem täglichen Verhalten und Entscheiden von Influencer:innen – als digitale „Meinungsführer:innen“ – beeinflussen und leiten, ohne dass wir unseren eigenen kritischen Verstand einsetzen? Und auch völlig unabhängig von Social Media und Influencer:innen; wir lassen uns täglich durch unsere Wahrnehmungen & Eindrücke leiten – in den meisten Fällen völlig unbewusst; wenn wir Nachrichten lesen, Werbung sehen, einen Film schauen oder anderen Menschen im öffentlichen Verkehr begegnen. Wie aufgeklärt und mündig sind wir bei der Verarbeitung dieser Eindrücke wirklich?
      Denn eine zentrale Kernaussage des Geistes der Aufklärung ist auch, dass wir Menschen Reize aus unserer Umwelt, Bilder, Eindrücke und Situationen jederzeit deuten und ihnen eine subjektive Bedeutung zuordnen, dass wir in dieser Deutung potenziell jederzeit frei sind und dass wir mit dieser Freiheit aber auch die Verantwortung über unsere Deutungen tragen. Was heisst das konkret? Unsere Wahrnehmungen von audiovisuellen Stimuli, Ereignissen, Informationen, Medieninhalten, Gesprächen oder sonstigen Interaktionen sind subjektiv verzerrt – abhängig von den Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, von unseren Werten, aber auch von unseren aktuellen Gefühlszuständen. Wir Menschen kennen nie die objektive Realität – wir konstruieren uns diese. Wir deuten und interpretieren ständig, was wiederum unser Verhalten begründet. Wie wir deuten, da sind wir potenziell völlig frei, das kann uns niemand vorschreiben. Entsprechend tragen wir auch die Verantwortung darüber.
      Der Schritt von unmündigen hin zu mündigen Bürger:innen folgt über das aktive Bewusstsein darüber, wie wir unsere Wahrnehmungen deuten, sprich, dass wir unsere Deutungen reflektieren und dabei unseren eigenen (kritischen) Verstand einsetzen. Mündige Bürger:innen sind sich ihren Deutungen wie auch ihrer Freiheit und Verantwortung darin bewusst, nehmen aktiv Einfluss darauf und steuern so selbstbestimmt ihre Reaktionen, Entscheidungen und Handlungen, während sich unmündige Bürger:innen darüber nicht bewusst sind und sich in ihrem Verhalten von den Reizen aus ihrer Umwelt oft fremdbestimmt steuern lassen.

Leider ist die Unmündigkeit oft auch sehr angenehm – es ist gemütlich, seinen kritischen Verstand auszuschalten und keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Warum soll ich beurteilen und mir den Kopf darüber zerbrechen, was ich wo machen soll, was angesagt, hip, trendig ist und was bei meinen Mitmenschen gut ankommt, wenn ich dafür erfahrene, kompetente und bekannte Persönlichkeiten auf einer jederzeit zugänglichen, digitalen Plattform habe, die mir das sagen???
      …Allerdings ist es nur über eine mündige Haltung möglich, Gewohnheiten zu verändern – sei es, als Individuum einen gesünderen Lebensstil zu führen, als Gesellschaft eine nachhaltigere, umweltverträglichere Versorgung zu begründen oder als Unternehmen die Produktivität und Innovativität zu steigern. Warum ist das nur über eine mündige Haltung möglich und was hat das mit Kulturentwicklung zu tun? Kulturtransformation ist letztendlich nichts anderes als die Veränderung von kollektiven Gewohnheiten – und dafür ist es wiederum wichtig, sich über eine mündige Haltung den oft unbewusst ablaufenden Verhaltenstendenzen, den Mechanismen dahinter und den entsprechenden Deutungsprozessen überhaupt zuerst einmal bewusst zu werden, damit darauf aktiv Einfluss genommen und neue Gewohnheiten etabliert werden können.
      Will nun bspw. eine Organisation ihre Unternehmenskultur verändern – d.h. die tief verankerten, oft unbewusst ablaufenden kollektiven Gewohnheiten, welche sich u.a. aus den individuellen Gewohnheiten der Organisationsmitglieder speisen – ist es elementar, in einem ersten Schritt die Mündigkeit dieser Organisationsmitglieder zu fördern. Das heisst, ihr Bewusstsein darüber zu schärfen, wie sie Dinge deuten, ihre Freiheit und Verantwortung darin zu bekräftigen und ihre Reflexionskompetenz wie auch den Einsatz ihres eigenen (kritischen) Verstandes zu stärken. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist wiederum die Förderung der psychologischen Sicherheit in dieser Gemeinschaft – ein von Vertrauen geprägtes Arbeitsklima, in dem sich jede Person sicher fühlen kann, Probleme offen anzusprechen, eine abweichende Meinung zu vertreten oder kritische Fragen zu stellen – sprich; den eigenen kritischen Verstand einzusetzen – ohne bestraft, gedemütigt oder für jeden kleinen Fehler angeprangert zu werden. Ein Zustand, der leider in vielen verschiedenen Gemeinschaften ein hohes Verbesserungspotenzial aufweist.

Um abschliessend eine Antwort auf die Frage im Essay-Titel zu geben, ob wir heute das Ziel der Aufklärung von mündigen Bürger:innen erreicht haben: Wir befinden uns meiner Meinung nach immer in einem Zeitalter der Aufklärung, ohne ein aufgeklärtes Zeitalter je zu erreichen, da wir immer wieder jederzeit und überall der Unmündigkeit verfallen können. Der Unterschied macht das aktive Bewusstsein über die Freiheit und den Einsatz des eigenen (kritischen) Verstandes. Entsprechend ist – denke ich – auch weniger von einem aufgeklärten Zeitalter, sondern viel eher von aufgeklärten Augenblicken zu reden. Solche aufgeklärten Augenblicke müssen wir uns immer wieder selbst erarbeiten.

 

Autor: Benjamin Zogg

benjamin.zogg[at]manres.com